!doctype
Categories: Interview

“Die Musiklandschaft boomt, die GEMA nervt” – Deichkind im motor.de-Interview

Zwei Jahre nach dem überraschenden Tod ihres Produzenten Sebastian “Sebi” Hackert haben Deichkind neue Kraft geschöpft und lehnen sich mit dem aktuellen Album “Befehl Von Ganz Unten” gegen die Obrigkeit auf – öffentliche Instuitionen wie die deutsche GEMA bekommen im motor.de-Interview ordentlich ihr Fett weg.

(Fotos: Universal Music)

“Hallo und alles gut? Sag mal, weißt du, wie der Titelsong von ‘Full Metal Jacket’ heißt?”, begrüßt einen Ferris Hilton noch bevor man in der Lage ist, sich selbst vorzustellen, “ich stelle gerade eine Liste mit Lieblingssongs zusammen und will nicht weiter stören”, entschuldigt er sich umgehend und hält sein iPhone leise getrimmt ans Ohr. Deichkind-Kollege Sebastian “Porky” Dürre interveniert: “Ferris, man, selbst wenn du die Mucke auf ein Minimum runterdrehst, nervt das – wenn ich also schon alleine das Interview hier machen soll, dann halt dich gefälligst zurück.” Ein irritierender Blick und die Erklärung, dass die Rollenverteilung so perfekt sei, folgen. Denn: “Porky kann mit Redakteuren besser als alle anderen von uns, behaupte ich mal.” Und zu erzählen gibt es wahrlich eine Menge, immerhin waren die letzten Jahre in der Karriere Deichkinds die zugleich schwersten seit ihrer Gründung.

Nach dem überraschenden Tod des Freundes Sebastian “Sebi” Hackert schien es anfänglich nicht wirklich sicher, dass die verbliebenen Mitglieder weitermachen und doch ist “Befehl Von Ganz Unten” ein vor Selbstvertrauen strotzendes Werk geworden – eines, dass sich nicht klein kriegen lässt, aufmüpfig und kritisch ist, tanzbar und doch nicht nur allein Party als Ziel allen Hedonismus sieht. Elektronische Beats und intelligenter Rap inklusive, haben Deichkind einen wundervollen Longplayer aufgenommen und teilen damit ordentlich aus: Gegen die Klassifizierung von Fans als illegale Straftäter, dem Leistungsdruck innerhalb der Arbeitswelt und gegen Verbote, die so verlockend sind, dass jeder Bock bekommt sich nicht dran zu halten. Ein motor.de-Interview über eine Band, die weitermacht und die eigenen Maxime gern auf die Spitze treibt.

motor.de: Sebastian, da wir erst mal alleine anfangen: Du bist letztens aufs Land gezogen und hast der Großstadt bewusst den Rücken gekehrt, wie kam es dazu?

Sebastian “Porky” Dürre: Es gab keinen bestimmten Grund dafür. Ich wollte einfach ein wenig Abgeschiedenheit und auf dem Land ist dies einfacher zu bekommen – die Uhren ticken da anders als in der Stadt. Ich fragte auch gleich einen Freund von mir, was man machen muss, um ins Dorfleben integriert zu werden – er meinte, der Feuerwehr beitreten und seitdem halte ich mich weit davon fern. Gefällt mir bislang ganz gut.

motor.de: Als vor drei Jahren eurer Freund Sebi überraschend verstarb, saß der Schock tief – inzwischen sprecht ihr recht offen darüber.

Sebastian “Porky” Dürre: Das war sehr heftig, weil ich am Abend zuvor noch mit ihm unterwegs war. Klar, den Tod man nimmt schon irgendwie wahr, wenn die Oma älter wird und so – aber ein Kumpel von dir, dass ist, als ob eine rostige Kettensäge einen Baum durchtrennt, sehr schmerzhaft. Damit umzugehen, fällt mir immer noch schwer.

motor.de: War es indes klar, dass Deichkind weitermachen?

Sebastian “Porky” Dürre: Kurz danach bin ich erst mal in Behandlung und hab mich wegschließen lassen – über Deichkind dachten wir zu dieser Zeit wenig nach. Irgendwann zwingt dich der Alltag aber, dass du dich damit auseinandersetzt und es steckt Sebis als auch unsere ganze Leidenschaft in der Band. Weitermachen erschien als richtiger Weg.

Deichkind – “Illegale Fans”

motor.de: Die erste Vorabsingle schlägt auch gleich wieder Wellen – “Illegale Fans”, so der Name, scheint sagen zu wollen, es ist okay, wenn ihr euch kostenlos Musik saugt.

Sebastian “Porky” Dürre: Ich weiß nicht, wie viele Exemplare wir von unserem letzten Album “Arbeit Nervt” verkauft haben, aber illegal downgeloaded wurde es millionenfach. Anderseits gibt es inzwischen andere Währungen für eine Band als Plattenverkäufe: Klicks auf YouTube helfen dir genauso dabei, eine große Tour auf die Beine zu stellen.

motor.de: Im Song wird etwas anderes behauptet und erwähnt, dass ihr euch davon “nichts kaufen” könnt.

Sebastian “Porky” Dürre: Können wir auch nicht, aber Bands wie Chicks On Speed (wird von Ferris plötzlich unterbrochen)…

Ferris Hilton: Die schieben ja noch weniger CDs über den Ladentisch als wir, haben aber vielleicht zwei Millionen Abrufe auf ihre Videos: Damit gehen die dann zu einem Festivalveranstalter und sagen, Summe XY auf den Tisch und wir spielen hier, 2.000.000 Klicks sind deren Währung.

motor.de: Dann scheint die GEMA sich aber zu irren, wenn sie alles blockt – Traffic entsteht dadurch keiner bei den Videos.

Sebastian “Porky” Dürre: Man könnte auch sagen: Die Musikbranche boomt, die GEMA nervt. Klar, den Plattenfirmen geht es weiterhin nicht wirklich gut, aber die Künstler haben neue Wege des Vertriebs entdeckt und Auftritte kann man nicht illegal downloaden – sperrt die GEMA allerdings deine Videos, hast du Booking-Agenturen gegenüber kein Argument und das ist kontraproduktiv.

Ferris Hilton: Acts wie Coldplay oder Beyoncé profierten von solcher Politik vielleicht, aber kleineren Künstlern ist mit der aktuellen Lage wenig geholfen.

motor.de: Weil wir gerade beim Thema sind, stimmt es, dass ihr die anstehenden Gigs gebucht habt, bevor auch nur ein Song im Kasten war.

Ferris Hilton: Das ist richtig und das einzige, was wir hatten, war der Albumtitel “Befehl Von Ganz Unten” – das fanden wir lustig, weil es mit dem Sprichwort spielt, wenn du ganz unten bist, dann ist unten eben oben.

motor.de: Inhaltlich ist die Platte schon anders als der Vorgänger “Arbeit Nervt”. Wo dort noch hedonistisches “Assitum” gefeiert wurde, scheint nun eine gewisse Sozialkritik im Mittelpunkt zu stehen.

Sebastian “Porky” Dürre: Recht gut interpretiert, denn natürlich kritisiert “Befehl Von Ganz Unten” die allgemeinen Umstände und vor allem das Prinzip, dass du als Arbeitnehmer funktionieren sollst – egal worum es geht, es ist deine Pflicht den Spielregeln zu folgen und wenn du das gut machst, geht es nach oben.

Ferris Hilton: Wir brauchen aussagekräftige Lyrics für unsere Songs und niemand will einfach nur eine Wurst in die Schüssel legen (beide lachen).

Deichkind – “Bück Dich Hoch”

Mehr Videos von Deichkind auf tape.tv!

motor.de: Obwohl “Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)” nicht mal in den Top 50 der Charts war, darf man den Song schon als Deichkinds Lebensversicherung bezeichnen, oder?

Sebastian “Porky” Dürre: Was manchmal nervt, weil die Leute unsere Alben seitdem immer nach einem zweiten “Remmidemmi” durchforsten und letztens auch ein Journalist enttäuscht meinte: Hm, schon wieder nichts dabei! (denkt nach) Ich denke dann immer, aber wir haben doch schon ein “Remmidemmi”, warum sollte es ein zweites geben? Der Song ist doch schon da!

motor.de: Ist es euch ein Anliegen, dass Deichkind vom Gesamtkonzept her immer größer und vielsagender werden?

Sebastian “Porky” Dürre: Wir planen da nicht so viel, wie man glauben mag. Vieles geschieht intuitiv oder per Zufall — während man zusammensitzt und über dies und das spricht. Manche von uns stehen nach den Konzerten zum Beispiel immer noch in ihren zehn Jahre alten, abgewetzten Jeans Backstage rum und sind nicht zu “Konzept-Künstlern” mutiert.

motor.de: Man liest zudem, dass einige Deichkind-Mitglieder unter Lampenfieber leiden – erstaunlich, bei euren Shows merkt man nichts davon.

Sebastian “Porky” Dürre: Genaugenommen nur ich. Ferris ist da lockerer, weil er abgezockter ist.

Ferris Hilton: Du musst mal zurückrudern, Porky. Erst die Sache mit der Klapse und jetzt dein Lampenfieber – so kommste völlig labil rüber. Bist du aber gar nicht!

motor.de: Vor zehn Jahren habt ihr mit “Limit” zum ersten Mal konsequent Elektro mit Rap kombiniert – wird es nach “Befehl Von Ganz Unten” eine weitere Transformation geben?

Sebastian “Porky” Dürre: Keine Ahnung, vielleicht ja, vielleicht nein. Ich denke über so was nicht nach und will eigentlich auch nicht wissen, wie unser aktuelles Album in die Charts einsteigt.

Ferris Hilton:
Quatsch, jeder innerhalb von Deichkind macht sich Gedanken darüber und erst letztens haben wir uns auf Platz eins geeinigt – so viel Größenwahn muss sein!

Marcus Willfroth


Weitere Informationen zur GEMA findet ihr im
motor.de-Dossier

Recent Posts

There is a crack in everything, that’s how the light gets in

“There is a crack in everything, that's how the light gets in”, sang einst der…

2 Jahren ago

Zwischen Pop und Experiment

Seit September veröffentlichen Yule Post und Tom Gatza gemeinsame Singles. Mit BYE erscheint nun die…

2 Jahren ago

Never Mind Modus Mio, Here’s the »NEW SILK«

Spätherbst 2022. Deutschrap TikTok-tänzelt zur zweihundertsten lieblosen Drill-Attrappe. Es wird höchste Zeit für neuen Druck…

2 Jahren ago

No time for losers with toxic desires

Sofia Portanet veröffentlicht am 2. November 2022 ihre neue Single Unstoppable, die dritte Single aus…

2 Jahren ago

Eine Geschichte von der Spannung zwischen Freundschaft und der Sehnsucht nach Intimität, untermauert von euphorischem Techno

Mit ihrer neuen Single “Mess Me Up” erzählt die junge Berlinerin benzii eine Geschichte von…

2 Jahren ago

MS DOCKVILLE 2022 – FESTIVAL FÜR MUSIK & KUNST

Ein Festival ist mehr als nur viele Konzerte – ein Festival ist eine Einladung, sich…

2 Jahren ago