Die 00er neigen sich dem Ende zu und noch ehe man sich an diesen bescheuerten Dekaden-Zählsprachgebrauch so richtig gewöhnt hat, muss man auch schon wieder umdenken. Doch solche numerischen Kleinigkeiten sollen uns nicht davon abhalten, das vergangene Jahr in Pracht und Schrecken Revue passieren zu lassen.
2010 war in künstlerischer Hinsicht durchaus das Jahr der Verluste, schon lange wurden nicht mehr so viele eklatante Todesfälle für die Popkultur beklagt. Doch das ist ja beileibe nicht alles. Deutschland wurde zwar abermals nicht Fußball-Weltmeister, aber dafür waren wir alle Lena. Was darüber hinaus noch alles so 2010 passiert ist, erfahrt ihr im folgenden motor.de-Jahresrückblick 2010 anhand auserwählter chronistischer Streiflichter, die zwar keinen Anspruch auf absolute Vollständigkeit erheben, aber trotzdem dem Gedächtnis beim Zurückspulen ein wenig auf die Sprünge helfen sollen.
Mit dem Tief „Daisy“ beginnt das Jahr in meteorologischer Hinsicht mit einem Downer: Minusgerade jenseits der 20er Marke sowie schippenweise Schnee und Eis lassen die Republik bibbern. Derweil reckt sich in den durchaus gemäßigteren Gefilden der Vereinigten Arabischen Emirate mit der Eröffnung des Burdsch Chalifa in Dubai der mit 828 Metern bislang größte Wolkenkratzer der Welt in den sonnig-blauen Himmel. In Haiti hingegen herrscht Trümmerstimmung, nachdem ein schweres Erdbeben erfasst und die Bevölkerung die Karibikinsel mit tragischen Menschenverlusten erschüttert. In Sachen Katastrophen-Prävention macht unterdessen der Automobil- hersteller Toyota von sich Reden. Das Unternehmen ruft weltweit über vier Millionen Fahrzeuge wegen eines Gaspedal-Defektes zurück. Nicht zu Bremsen hingegen ist der Computer-Konzern Apple, der Ende Januar sein neuestes Gadget vorstellt, das künftig zum guten Technik-Ton gehören will: das iPad.
Ob sich Autor J.D. Salinger darüber freuen würde, dass sein Kultbuch „Der Fänger im Rogen“ künftig auf dem Tablet-Reader konsumiert werden kann, wird man nie erfahren, denn der Schriftsteller verstirbt im Alter von 91 Jahren. Auf der großen Leinwand wird das Kinopublikum mit Terry Gilliams „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ dann auch noch Zeuge einer posthumen Darbietung des während der Dreharbeiten verstorbenen Hauptdarstellers Heath Ledger. Auch in der Bundespolitik kündigt sich mit der Rücktrittserklärung von Oskar Lafontaine für einige ein Verlust an. Die Pop-Welt dominieren im Post-Weihnachts-Winterschlaf dahingegen nur zwei große Ereignisse: „Animal“, das Debüt des amerikanischen Dance-Electro-Pop-Hoffnungs- sternchens Kesha und die Grammy-Verleihung, bei der Beyoncé Knowles, Kings of Leon, die Black Eyed Peas und Jay-Z gleich mehrfach absahnen. Das fängt ja gut an.
Während in Vancouver, Kanada, die 21. Olympischen Winterspiele abgehalten werden und sich das Gastgeberland als führender Favorit auf den Siegertreppchen entpuppen wird, geht es für Griechenland in finanzieller Hinsicht weiter in den Keller. Aus Brüssel folgt daher der Erlass der Europäische Kommission Griechenlands Haushalt unter EU-Kontrolle zu legen und die Neuverschuldung bis 2012 weiter zu drücken. Bei den Künsten hingegen ist von Preisdruck nach unten keine Spur. In London erzielt die Plastik „L’Homme qui marche I“ des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti eine Auktionssumme von ca. 74 Millionen Euro und ist damit das teuerste jemals versteigerte Art-Artefakt. Die Memoiren des Herzensbrechers Giacomo Casanova bringen beim Verkauf durch das Verlagshaus Brockhaus an Frankreichs Kultusminister Frédéric Mitterrand für 7,2 Millionen den höchsten Preis ein, der bis dato für ein Manuskript bezahlt wurde. Das nennt man dann wohl ein Liebhaberthema. In Sachen Film ist dies im Februar der britische Coming-of-Age-Streifen „An Education“ von Regisseurin Lone Scherfig. Auf einem Drehbuch von Nick Hornby basierend, beschert er dem Kino mit Darstellerin-Neuentdeckung Carey Mulligan für viele eine würdige Audrey Hepburn-Nachfolgerin.
Der Musikhistoriker freut hingegen die Veröffentlichung des posthumen Johnny Cash Albums „ American VI: Ain’t No Grave“ als vorerst letztes tonales Vermächtnis des Mannes in Schwarz, der es damit auf Platz drei der US Billboard 200-Charts schafft. In Deutschland tun sich indess abermals geschmackliche Abgründe auf. Die Band Unheilig belegt mit der Single „Geboren um zu leben“ die Top 2-Position und schiebt mit der dazugehörigen Mutter-Scheibe „Große Freiheit“ gleich noch den Top-1-Album-Kandidaten hinterher. Noch ahnt niemand die im August folgende totale Blasphemie: „Große Freiheit“ wird Herbert Grönemeyers „Ö“ als am längsten auf Platz eins der deutschen Charts befindliches Album eines heimatlichen Künstlers ablösen. „Was soll das“ möchte man da fragen. Wissen wir aber leider auch nicht. Doch zurück in den Februar. Während in Stuttgart die Bauarbeiten zum Bahnhof-Projekt Stuttgart 21 beginnen und die Weichen für einen unvergleichlichen Bürger-Proteststurm stellen, schlägt in Concepción, Chile ein unerbittliches Erdbeben zu und sorgt mit dazugehörigem Tsunami-Terror im Pazifischen Ozean für ein geographisches „Land unter“.
Etymologen und Freunde von Zungenbrecherspielchen freuen sich darüber, dass ein neues Wort in aller Munde ist: Eyjafjallajökull. Der unerfreuliche Ausbruch jenes isländischen Gletschervulkans sorgt für Evakuationen en Masse und lahm gelegten Flugverkehr allerorts. Das hat bislang nicht mal Björk geschafft. In Deutschland schafft hingegen ein ganz anderes und nicht minder gewöhnungsbedürftiges Stimmtalent den Vorentscheidssieg zum Eurovision Song Contest 2010. Die Neunzehnjährige darf mit dem Song „Satellite“ als deutsche Repräsentantin in Oslo anrücken. Begeisterndes Crossover-Potential legen auf dem globalen Pop-Parkett die Gorillaz an den Tag. Ihr drittes Album „Plastic Beach“ geizt weder mit Gastauftritten noch genialen Ideen-Eklektizismus und erobert die globalen Charts in obersten Regionen. Mit diesen hatte Mark Linkous zwar nie wirklich was zu tun, trotzdem ist sein der Tod des Sparklehorse-Masterminds ein schwerer Verlust für die Musikwelt und trifft tief. Auf der politischen Bühne stehen im März die USA im Fokus. So drückt Barack Obama zum einen im Repräsentantenhaus die von im initiierte Reform des Gesundheitssystemes knapp durch. Zum anderen einigt sich der US-Präsident mit dem russischen Ministerpräsident Dmitri Medwedew auf ein Abrüstungsabkommen, bei dem die Reduzierung der Atomwaffen auf dem Plan steht. Ein weiteres Highlight im vermeintlichen Gutmenschen-Monat-März ist die „Earth Hour“. Der Aufruf der internationalen Naturschutz- organisation WWF im Zeichen des Klimaschutzes für eine Stunde lang das Licht auszuschalten, leisten Millionen von Menschen in 125 Ländern Folge. Bei der 82. Oscarverleihung scheint der Jury letztlich ein qualitatives Licht aufgegangen zu sein. Anstelle des blutleeren Schlumpf-Sciene Fiction-Machwerks und „Der mit dem Wolf tanzt“-Kopie „Avatar“ heimst mit dem Kriegsstreifen „The Hurt Locker“ ein echtes Zelluloid-Zeugnis die begehrte Trophäe als bester Film ein und trumpf mit Kathryn Bigelow eine richtige Regisseurin über James Camerons blauäugigen 3D-Dämlichkeiten. Wie gesagt, ein (r)echter Gutmenschenmonat.
Der April beginnt mit einem schweren Absturz. Beim Crash einer polnischen Regierungsmaschine sterben 96 Menschen, darunter hochrangige polnische Politiker sowie auch Staatspräsident Lech Kaczynski. Auch im Popkulturbereich wütet der Sensenmann in diesem Monat unerbittlich. So müssen nicht nur „Denver-Clan“-Star und Schauspieler John Forsythe, sondern auch Type O Negative-Sangeshühne Peter Steele über die Klinge springen. Mit Mode-Anarchist und Sex Pistols-Manager Malcolm McLaren verliert die Welt eine weitere Kunst- und Stil-Ikone. Apropos Asche, auch der immer noch unaussprechliche Island-Vulkan Eyjafjallajökull bricht abermals aus und sorgt mit einer enormen Aschewolke für den Zusammenbruch der europäischen Luftfahrt. Auf dem Meer hingegen schlägt eine ganz andere Verschmutzungs-Gefahr zu Buche. Eine Explosion auf der BP-Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexiko führt zu einer riesigen, flächendeckenden Ölteppich-Pest. In Atomkraft-Angelegenheiten spielen sich in Deutschland inzwischen wieder Szenarien ab, die an die Achtziger erinnern. Mit Kilometerlangen Menschenketten zwischen den Kernkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel demonstrieren über 120.000 Atomkraftgegner gegen die Energiepolitik der Bundesregierung. Der deutsche Filmpreis ehrt indes Michael Hanekes Spielfilm „Das weiße Band“ in zehn Kategorien unter anderem auch als bester Film mit Gold-Auszeichnung. In der Popwelt überzeugt hierzulande der Gold- und Platingekrönte deutsche Reggeastar Gentleman mit seinem fünften Studioalbum „Diversity“, während auf internationaler Ebene sich die amerikanischen Indietroniker von MGMT mit ihrem Zweitwerk „Congratulations“ selbst zum fortgeführten Chart-Erfolg beglückwünschen dürfen.
Mit der Übernahme von Continental Airlines zu einem Aktien-Paket-Preis von 3,2 Milliarden Dollar macht Überflieger United Airlines als größte Fluggesellschaft der Welt von sich Reden. Dagegen setzt die Europäische Union zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds lieber auf ein Rettungspaket in Höhe von 750 Milliarden Euro zur Verhinderung von Staatspleiten. Von Pech und Pannen sind dagegen in der Bundesliga zum Saisonende weder Hertha BSC Berlin noch der VfL Bochum gefeit – beide Vereine steigen in die zweite Liga ab, während der FC Bayern München bereits zum achten mal Meisterschafts- und Pokalsieg einfährt. Überraschender ist dahingegen der Siegeszug von Lena Meyer-Landrut beim Eurovision Song Contest in Oslo. 28 Jahre nach Nicoles Beitrag kann die Hannoveranerin auf den zweiten deutschen Song-Sieg in der Geschichte stolz sein. Dementsprechend debütiert auch ihr kurzerhand im Siegestaumel nachgeschobenes erstes Album „My Cassette Player“ auf Platz Eins der Albumcharts und sahnt damit Doppel-Platin ab. In Hinter- und untergründigen Musik-Kreisen sind es indes die Black Keys, die mit ihrem Album „Brothers“ für Freudentränen bei der Post-Blues-Anhängerschaft sorgen. Außerdem bescheren The National mit ihrem Album “High Violet” der Musikpresse feuchte Augen. Die andere Art Tränen bleibt im Mai allerdings auch nicht aus. Neben Heavy Metal-Über-Stimme Ronnie James Dio verstirbt mit Paul Gray auch der Bassist der Metal-Maskenmänner Slipknot. Filmfreunden geht es indes nicht besser als dem gemeinem Headbanger, denn mit Dennis Hopper segnet einer der letzten großen (New) Hollywood-Stars das Zeitliche. Das politische Amtshandtuch schmeißt unterdessen auch frühzeitig Bundespräsident Horst Köhler, der nach anhaltender Kritik an seinen Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr schließlich zurücktritt.
Nach Köhlers Rücktritt wird Christian Wulff bei der Bundespräsi- dentenwahl durch die Bundesversammlung zu dessen Nachfolger und neuem Bundespräsidenten gewählt. In monarchistischen Kreisen und bei der Gala-Gefolgschaft ist unterdessen ein ganz anderes Ereignis das Massemediales Traumhochzeit-Event des Sommers: In Stockholm ehelicht Kornprinzessin Victoria von Schweden ihren Daniel Westling. Nur eine Abba-Reunion fehlt jetzt noch zum blühenden Glück einer ganzen Nation.
Festliche Ballaktivitäten der rundledernen Art bestimmen unterdessen eher die männlichen Gefühlslagen auf globaler Basis. Die 19. Fußball Weltmeisterschaft beginnt im Austragungsland Südafrika – nicht ohne Skandale. Diverse Fehlentscheide von Schiedsrichtern führen dazu, dass FIFA-Präsident Sepp Blatter den Videobeweis bei heiklen Spielszenen als Kontrollmechanismus ernsthaft prüfen lassen will. Im Rahmen der Nachwehen der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko erklärt sich der Mineralölkonzern BP zu einer Zahlung von 20 Milliarden US-Dollar in einen Entschädigungs- fonds für die Betroffenen bereit. Classic Rock-Anhänger freuen sich derweil über die Rückkehr von Tom Petty and the Heartbreakers, die nach achtjähriger Pause mit ihrem zwölften Album „Mojo“ ebendieses zurück gewonnen zu haben scheinen. Auch Eminem erweist sich als Fleiß-Rapper und legt nur ein Jahr nach seiner mit „Relapse“ beendeten mehrjährigen Album-Abstinenz mit „Recovery“ den nicht minder erfolgreichen Beweis vor, dass er sich von seiner Schreibblockade erholt hat. Auch ein Highlight dieses Monats ist die reguläre Veröffentlichung von “The Dark Night Of The Soul“, das gemeinsame Projekt von Danger Mouse, Sparklehorse, Vic Chesnutt und Film-Ikone David Lynch. Bis zu diesem Zeitpunkt geisterte dieses großartige Werk nur als virtuelles Gespenst durchs Netz.
Frank Thießies
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