So vielfältig wie seine Wurzeln ist auch die Musik Shantels. Im motor.de Interview spricht er über die Nische “Balkan-Pop”, Osteuropa und den Verlust seiner Haare.
Als DJ und Produzent begann sein Weg, führte ihn von den erfolgreichen “Bucovina”-Samplern zum aktuellen Status als ausgebuchter Live-Act, der mit seinem zweiten Album “Planet Paprika” auf gefühlter Endlostour ist. Um den Werdegang des S(tefan) Hantel genauer unter die Lupe zu nehmen, Konzept und Ziel seiner Arbeit zu beleuchten sowie an seinen privaten Erfahrungen und Kenntnissen zur Bucovina teilzuhaben, traf sich motor.de mit ihm zum ausführlichen Gespräch in Leipzig.
motor.de: Du bist ständig unterwegs, um Konzerte zu geben. Wie gefällt dir das Tourleben?
Shantel: Ich finde es sehr gut und sehr aufregend. Man muss allerdings auch dafür gemacht sein. Wann man lieber daheim auf der Couch am warmen Kamin sitzt, sollte man einen anderen Beruf wählen. Aber ich wollte schon immer unterwegs sein, viel reisen, andere Städte sehen, Leute kennen lernen – deshalb ist es für mich die beste Variante.
motor.de: Aber Zeit für Familie und Freunde bleibt da nicht viel, oder?
Shantel: Doch. Man muss einfach gut organisiert sein. Dieses Leben fordert einen heraus, zu planen. Spontan in den Urlaub zu fahren, ist schwierig. Ich bin viel im Ausland und versuche das mit den Treffen mit Familie und Freunden zu kombinieren. Sagen wir so: es gibt Schlimmeres. [lacht]
motor.de: Du hast in einem Interview gesagt, dass du Nischenmusik machen würdest. Kann man das noch aufrechterhalten, wenn beim Highfield- oder Fusion-Festival tausende von Leuten zu deiner Musik tanzen?
Shantel: Auf jeden Fall. Wenn ich von einer Nische spreche, dann geht es vor allem um die öffentliche Wahrnehmung. Ich selbst bewege mich wahrscheinlich in einem Vakuum. Auf der Fusion sind es vielleicht viele Leute, die abgehen. Aber wenn ich mit meinem letzten Album „Citizen Of Planet Paprika“ die Radiostationen kontaktiere, die meist nur dieselben angloamerikanischen Pop- und Rockformate abspulen, sagen alle: „Das können wir nicht spielen.“
motor.de: Aber ein gewisser Trend ist doch zu verzeichnen?
Shantel: Überhaupt nicht. Es gibt vielleicht einen gefühlten Trend. Wenn wir uns jetzt unterhalten – ihr seid nicht ARD oder ZDF. Ihr seid wahrscheinlich eine wunderbare Schnittstelle, mit der ihr… Wie viele Leute erreicht ihr?
motor.de: Diesen Monat sind es ungefähr 500.000.
Shantel: Das ist schon nicht zu verachten. Aber ihr seid sicherlich eine Plattform für alternativere Musik. Wenn in so einem Dunstkreis Balkan-Pop auftaucht oder das Phänomen rezipiert wird, dann ist das zwar eine gefühlte Schlagzahl, aber keine Welle und kein Hype.
motor.de: Ist das dein Ziel?
Shantel: Nein. Ich bin kein Missionar, ich will auch nicht den Balkan repräsentieren. Mir geht es auch nicht darum, Botschafter für Osteuropa zu sein, ganz im Gegenteil. Ich will einfach nur gute Musik machen. Ich will gar nicht für mich in Anspruch nehmen, dass es keine Leute gibt, die das kritisieren. Das ist auch legitim. Ich versuche, nach meinen Möglichkeiten gute Musik zu machen. Meine Musik klingt anders als übliche Varianten, aber im Prinzip reflektiert sie auch meine persönliche Identität, bzw. wie ich sozialisiert wurde und was meine grundsätzliche Vision des Musikmachens ist. Das ist das Einzige, was mir persönlich wichtig ist. Alles andere, was darum gebastelt wird an Schubladen und Kategorien wie „Balkan-Hype“, hat sich verselbständigt. Dadurch wird eine Dynamik freigesetzt, die man schwer kontrollieren kann – aber das ist auch nicht meine Aufgabe. Ich versuche mich konkret auf das zu beziehen, was ich im Studio oder auf der Konzertbühne mache.
Eine Show auf der Fusion ist großartig, weil dafür keine Marketingfirma im Hintergrund die Strippen gezogen hat. Wir haben für diesen Auftritt nichts getan. Bei dem Slot, den wir dort gespielt haben, kommen normalerweise 2000 bis 3000 Zuschauer – aber im Endeffekt waren es dann viel, viel mehr. Niemand hätte das erwartet, doch es impliziert, dass es tatsächlich ein Publikum für diese Musik gibt. Aber die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, spiegelt das nicht wieder. Deshalb sage ich, wir seien Exoten und besetzten Nischen. Wir sind fremd im eigenen Land. Eigentlich will ich hier sitzen und sagen, ich bin ein deutscher Musiker und aus. Dass ich eine rumänische Großmutter habe, macht mich nicht zum besseren Sänger und dass mein Großvater Grieche ist, macht mich nicht zum besseren Gitarristen. Ich bin deutscher Musiker, es klingt bei mir nur ein bisschen anders. Da bin ich auch ein wenig stolz drauf. Alles andere entzieht sich dann dem Bereich, in dem ich etwas bewegen kann.
motor.de: Inwiefern hat deine frühere Karriere als DJ und Produzent deine jetzige Musik beeinflusst?
Shantel: Ich habe vor 1999 vier Alben gemacht, die eher im Bereich Freestyle-Electronica bzw. Downbeat angesiedelt waren. Wobei ich schon 1993 meinen ersten Compilation-Beitrag gemacht habe, der sehr Balkan- und Elektro-orientiert war. Da hat es nur keiner wahrgenommen. Als ich dann anfing mit dem Bucovina Club, haben alle, mit denen ich bis dahin gearbeitet habe, egal ob Label, Vertrieb oder Journalisten, gesagt: „Junge, du spinnst!“ Deswegen auch der Schritt zum eigenen Label – was ich eigentlich nie tun wollte. Aber faktisch wollte es niemand Anderes machen – es gab keinen Markt, keine Struktur. Und ich wollte auf keinen Fall auf einem Weltmusik-Label veröffentlichen, da diese eine zu mir konträre Philosophie pflegen. So gesehen habe ich bei Nullkommanull angefangen.
motor.de: Was hat dich denn auf deiner Reise, die du unternommen hast, um deinen Familienwurzeln auf die Spur zu kommen, besonders fasziniert?
Shantel: Was mich eher bewegt hat denn fasziniert war, dass alles, was ich aus Erzählungen von meiner Mutter und Großeltern über die Bucovina erfahren habe, nicht mehr existiert. Der Zweite Weltkrieg und die Besetzung durch die Sowjetunion haben die Bucovina kulturell unwiederbringlich zerstört. Dieser vielschichtige, kosmopolitische Kulturraum ist durch Nationalismus und Stalinismus, durch Ignoranz vernichtet worden.
Auf meiner ersten Reise habe ich erwartet, ins Paradies, in den unberührten Osten, zu kommen. Aber was ich kennen gelernt habe, war die Stadt Czernowitz, wo meine Großeltern herkommen, die sehr pittoresk und schön war. Aber heute leben dort nur Russen – alles liebe Leute und ich hatte auch eine schöne Zeit – die jedoch kein Interesse haben, was in der Vergangenheit passiert ist. Ich habe gemerkt, dass die Welt aus den Erzählungen vor dem Krieg nicht mehr existiert. Das war andererseits für mich die Motivation, positiv über die Bucovina zu berichten. Eine Idee zu kreieren, die sie virtuell neu erfindet.
Ich komme aus einer jüdischen Familie, und ich kannte die Bucovina nur im Zusammenhang mit traurigen und melancholischen Geschichten: Verlust der Heimat, alltäglicher Rassismus, Antisemitismus – motiviert durch das faschistische Antonescu-Regime der Rumänen nach dem Ersten Weltkrieg. 1918 wurde sie von Rumänien annektiert, davor gehörte die Bucovina zu Österreich-Ungarn. Sie war die Heimat vieler Volksgruppen und Nationalitäten. Die Ukrainer, also die Kosaken, sind von Russland als Leibgarde des Zaren einmal in diesem Landstrich angesiedelt worden. Leute aus aller Herren Länder, unter anderen Russen, Polen, Rumänen, Österreicher, Deutsche, Türken, Griechen haben dort über Jahrhunderte friedlich miteinander koexistiert. Meine Großeltern haben auch Russisch, Rumänisch, Deutsch, Ukrainisch, Jiddisch und Französisch gesprochen. Dann wurde die Bucovina von Rumänien annektiert, bis 1941. Daraufhin hat sie die Sowjetunion befreit, allerdings nur für ein Jahr, bis die faschistischen Rumänen mit Nazi-Deutschland im Hintergrund wiederkamen. Die haben alles kurz und klein geschlagen, was einer politischen oder ethnischen Minderheit angehörte.
Und aus dieser Art Enttäuschung heraus, das alles, was ich aus Erzählungen kannte, nicht mehr existiert, war ich emotional sehr bewegt und habe mich bei meiner Rückkehr nach Deutschland gefragt: „Was machst du jetzt?“ Dann habe ich beschlossen, mich einerseits auf meine familiären Wurzeln zu beziehen, wo die Musik eine wichtige Rolle gespielt hat und die auch als Bindeglied zwischen den Kulturen funktioniert hat. Andererseits wollte ich meine Erfahrung mit elektronischer Musik, aber auch mit Pop und Rock, einbringen. Und dadurch wollte ich etwas Neues kreieren – kein sentimentaler, musealer Rückblick auf das Verlorene, sondern etwas, was auch mit meinem Dunstkreis, meiner Existenz in der Gegenwart zu tun hatte.
motor.de: Deswegen dann auch der Wechsel von den Plattentellern zum Live Act?
Shantel: Ich habe als DJ angefangen – Musik machen war für mich schon immer etwas Unseriöses, was ich aber gerne gemacht habe. Ich bin zur Produktion gekommen, weil ich neugierig war. Ich wollte wissen, was es für Möglichkeiten gibt. Es war aber mehr „learning by doing“, ich habe eigentlich Grafikdesign studiert. Musik war nicht mein erstes Ziel. Aber irgendwie hat es sich ganz gut entwickelt.
motor.de: Nochmal zur “Nischenmusik” – nichtsdestotrotz ist „Disko Partizani“ ein richtiger Hit geworden, der auf den unterschiedlichsten Partys funktioniert.
Shantel: Es gibt Songs, die sind einfach gut, da stimmen die Ingredienzien. Es ist schwer zu erklären, warum das so ist. „Bucovina“ ist auch eine Art Hit geworden – das macht die Musik aber nicht schlechter, ganz im Gegenteil. Man kann so eine Idee nicht mehr kontrollieren. Es ist aber wunderbar zu erleben, dass egal in welchem Land – wir spielen auch viele Shows im Ausland, die nicht wirklich kommerziell sind – die Leute den Song kennen. Das ist ein guter Indikator, dass eine gute Idee es schafft, ohne Marketingkonzept seine eigenen Wege zu gehen. „Disko Partizani“ hat seine Hörer gefunden, ohne dass man viel machen musste. Aber man kann nicht von kommerziellem Erfolg sprechen, denn der Song hat nicht bewirkt, dass sich mehr CDs verkaufen. Das Album ist unsere Visitenkarte, wir verdienen damit kein Geld. Dass „Disko Partizani“ ein Hit geworden ist, hat an unserem finanziellen Status nichts geändert. Wir spielen viel live, um über die Runden zu kommen und das Projekt zu finanzieren.
motor.de: Ist „Disko Partizani“ vielleicht deshalb ein Hit geworden, weil es für Europa musikalisches Neuland betritt, weil alte Impulsgeber den Leuten zum Hals heraushängen und man den Balkan neu entdeckt?
Shantel: Wer von den Hörern assoziiert mit dem Song wirklich den Balkan? Man merkt auch, dass das Publikum sich verändert, dass Leute zu den Konzerten kommen, die kulturell mit der Musik nichts zu tun haben. Es sind viele Parameter, die eine Rolle spielen. Es gibt eine Ermüdungserscheinung gegenüber angloamerikanischen, modekompatiblen Impulsen aus London oder New York. Kontinentaleuropa ist kulturell viel spannender geworden als diese Brennpunkte der Vergangenheit. Natürlich transportiert „Disko Partizani“ auch eine gewisse Exotik und Frische. Aber es ist einfach ein guter Song. Der Zauber ist auch, dass man den Erfolg nie vollständig entschlüsseln kann.
motor.de: Deine Musik ist eine Art Schmelztiegel, weil Elemente aus unterschiedlichen Genres wie Techno, Rock oder auch Reggae einbezogen werden…
Shantel: Ich liebe Dub und Reggae. Reggae war für mich immer eine Szene inspirierende Variante. Man setzt sich aber nicht hin und beschließt, einen Song zu machen, den die Techno- oder die Hip Hop-Leute toll finden. Als ich mit dieser Musik angefangen habe, war ich sehr vorsichtig. „Bucovina Club 1“ war eher eine Compilation, aber auch mit eigenen Sachen, „Bucovina 2“ dann die logische Fortsetzung. Aber ich ging sehr vorsichtig vor, um dieses kleine Pflänzchen wachsen und gedeihen zu lassen und es nicht erzwingen zu wollen. Ich wollte nicht missionieren, sondern ich habe die Songs, die ich gut fand, auf „Bucovina Club“ gefeaturet, um es den Leuten auf einer sinnlichen, emotionalen Ebene näher zu bringen. Außerdem wollte ich die Geschichte der Bucovina erzählen. Aber irgendwann stellte sich die Frage, ob ich „Bucovina Club Nummer 26“ mache oder noch einmal ins kalte Wasser springe. „Disko Partizani“ war dieser Sprung, der aber für mich logisch war. Ich fand es wichtig, etwas zu machen, was mich künstlerisch wieder ein bisschen aufs Glatteis führt. Ich habe z.B. mit englischen Texten gearbeitet und andere Einflüsse verarbeitet. Aber letztendlich gab es keinen Masterplan, sondern es war eine Bauchentscheidung. Crossover-Potenzial, vielschichtiges Publikum, viele Szenen – das war mir eigentlich egal. Ich wollte dieses Album machen, und was dann passiert, kann man nicht mehr kontrollieren. Wir sind ein kleines Label, wir haben kein Geld, um eine Marketingkampagne zu starten. Es hat sich eher graswurzelmäßig entwickelt, worauf ich sehr stolz bin. Eine gesunde Multiplikation ist immer besser, als den großen Hype auszurufen.
Ich habe auch eine Remix-Anfrage von Madonna bekommen, die ich abgelehnt habe. Da habe ich keinen Bock drauf. Man könnte die Kuh melken, aber man muss nicht alles machen. Gerade in der heutigen Zeit.
motor.de: Du standest in der Türkei als erster deutscher Künstler überhaupt auf Platz 1 der Charts und bist in Osteuropa sehr erfolgreich. Wäre der Eurovision Song Contest eine Herausforderung für dich?
Shantel: Die Ukraine und Rumänien haben mich gefragt, ob ich einen Song für sie schreiben will. Ich fühlte mich zwar sehr geehrt, aber ich werde niemals ein Land repräsentieren. Ich gebe gerne Konzerte dort, aber ich werde mit keiner Fahne wedeln. Das ist nicht mein Ding. Ich respektiere die Leute und den Standpunkt, den sie vertreten, aber mein Ansatz ist ein anderer.
motor.de: Wie erklärst du dir deinen Erfolg in Osteuropa, wo deine Musik verwurzelt ist? Das ist ungefähr so, als wenn ein Kroate bayerische Volksmusik macht…
Shantel: …was durchaus legitim wäre. Ich glaube auch nicht, dass er nicht ernst genommen werden würde. Es gibt zum Beispiel Japaner, die sehr gut Mozart interpretieren. In Bezug auf Osteuropa: Meine subjektive Einschätzung ist, dass mit dem Zusammenbruch der so genannten kommunistischen Systeme in Osteuropa ganz viel über den Haufen geworfen worden ist. Nicht nur ideologisch, sondern auch kulturell. Die junge Generation hat nach der Wende alles, was mit Vergangenheit und Tradition zu tun hat, abgelehnt und sich sehr stark nach Westen orientiert. Es waren ganz andere Dinge, die plötzlich von Bedeutung waren: dickes Auto, Kohle, Handy, DVD-Player, schicke Klamotten. Es gibt nirgendwo so ein Dolce & Gabbana-Branding wie in Rumänien.
Das ist auch alles legitim, jeder muss seine Metamorphose durchschreiten. Dieser Prozess hat aber zur Folge gehabt, dass die Leute anfingen, nach ihrer Identität zu fragen. Die Politik sagt uns ständig, dass die ganze Vergangenheit schlecht war, kontaminiert mit unserer Idee des Kommunismus. Viele haben aber festgestellt, dass es zwar sehr wohl einen politischen Alltag mit Unterdrückung gab, aber auch eine kulturelle Identität, die sich über die Musik ausgedrückt hat. Diese hatte nichts Negatives, ist aber nicht fortgesetzt worden. Dann kommt plötzlich jemand wie ich aus Deutschland – was mir die Leute manchmal gar nicht glauben – und ruft mit seiner Musik Gefühle und Erinnerungen hervor: „Diese Musik kommt von uns, aus unserem Kulturkreis!“ Die Leute nehmen das als etwas Hippes, Modisches war, das losgelöst ist von Vergangenheit, Ideologie, Instrumentalisierung. Es geht einfach um gute Musik, die mit Beats und elektronischen Einflüssen daher kommt und eine gewisse Sexiness hat. Die Parameter sind ähnlich. „Disko Partizani“ und „Bucovina“ haben Anleihen an Reggae und Dancehall. Es funktioniert auch auf dem Dancefloor, weil ich nicht von der Musikschule komme, sondern von illegalen Partys. Ich kann keine Noten lesen, war nie im Musikunterricht. Aber wenn ich irgendwo eine Party gemacht habe und die Anlage war Grütze, dann braucht man einen Track, der auch auf einer schlechten Anlage gut klingt. Das war meine Schule. Warum soll das im Osten nicht auch so funktionieren?
(Shantel beim sprichwörtlichen Bad in der Menge)
motor.de: Eckst du manchmal noch an mit deiner Musik?
Shantel: Was wir machen ist sicherlich polarisierend – nicht nur bei Journalisten und Hörern. Wenn man quer durch Europa reist, gerät man immer wieder in Polizeibefragungen. Und die Band spielt backstage nicht Karten, sondern füllt Visaanträge aus. Ich war es irgendwann leid, Fragen nach Herkunft und Identität zu beantworten. Dann habe ich immer gesagt: „I’m coming from planet paprika.“ Das ist ein virtueller Ort, wo es nur Menschen gibt und man nicht nach Herkunft und Religion gefragt wird, ein Visum ist auch nicht nötig. Aber mir geht es nicht um Polit-Bambule, ich brauche keine klirrenden Scheiben und brennenden Autos.
motor.de: Bist du ein moderner Hippie?
Shantel: Das Hippietum war die Antwort auf eine stark repressive Gesellschaftssituation in den 60er Jahren. Damals war die Moral am Boden und eine konservative Grundeinstellung normal. Die Antwort darauf war Rebellion. Diese war entweder destruktiv mit der RAF als letztes Glied in der Kette oder positiv mit dem Hippietum als letzter Ausprägung. Das hat sich aber als selbstverliebte Variante in Wohlgefallen aufgelöst. Wenn du mich in so eine Kategorie steckst, fände ich das gefährlich, weil Geschichte sich nicht wiederholt. Natürlich gibt es beim Musikmachen verschiedene Parameter, die etwas mit der Vergangenheit zu tun haben. Deshalb würde ich Hippie zwar gelten lassen, aber für mich ist das kein Aufhänger.
motor.de: Noch ein ganz anderes Thema – wieso hast du dir eigentlich die Haare abrasiert?
Shantel: Ich habe einen Musik-Workshop an Frankfurter Grundschulen gemacht, wo es in einer Klasse ein akutes Läuseproblem gab. Die Hälfte der Schüler hatte kahl rasierte Schädel. Die Kinder waren so traurig darüber, dass ich aus Solidarität meine Haare auch abgeschnitten habe.
An dieser Stelle mussten wir unser Interview mit Shantel abrupt beenden, da uns der Tourmanager dezent darauf hinwies, dass wir bereits den geplanten Konzertbeginn zeitlich überschritten haben und nur wenige Meter entfernt ein voller Saal immer unruhiger wird. Zehn Minuten später finden wir uns in einer textsicheren Masse wieder, die ausgelassen dem mitreißenden Offbeat frönt.
Interview: Philipp Rößler/Kai-Uwe Weser
Fotos: Kai-Uwe Weser
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