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Letztes Jahr wurde das Dockville noch inoffiziell in Schlammville Festival umbenannt. Das schlechte Wetter blieb in diesem Jahr aus, sodass das dreitägige Event in Hamburg kurzum zum Hipsterville mutierte. motor.de war für euch dabei.
Wir schreiben Freitag, den 10. August 2012, der Reiherstieg Hauptdeich im Süden Hamburgs, genau genommen im Stadtteil Wilhelmsburg, entwickelt sich mit voranschreitender Nachmittagszeit zum unwiderstehlichen Anziehungspunkt für Musik- und Kunstfreunde. Auch wir haben uns auf den Weg zum Hafengelände gemacht, doch kaum liegt das Einlassprozedere endlich hinter uns, sticht eines sofort ins Auge: Welcome to Hipstermania!
Egal wohin man sich dreht und wendet, sie lauern an jeder Ecke. Sie, mit kecken Sprüchen an der jutebebeutelten Hüfte, Großmütterchens Gardine lasziv um die Taille gewickelt, die lange Mähne zu einem kleinen Kopfbommel geklöppelt. Und er, die Ray Ban zum gestutzten Pisspottschnitt kombiniert und natürlich Papas ausrangiertes Hemd bis zum hervorstechenden Adamsapfel zugeknöpft. Wenn sich Mittzwanziger wie wir plötzlich ein wenig out und 08/15 fühlen, kann das nur bedeuten, dass wir auf dem MS Dockville gelandet sind. Augen zu, Ohren auf und durch.
Am Freitag sind schon einige Acts auf unserem Festivalplan mit einem dicken Kringel versehen, damit uns am Ende keiner erzählen kann, etwas wirklich Großartiges verpasst zu haben. Nachdem das 20 Hektar große Gelände mit seinen zwei großen Bühnen – dem Vor- und dem Großschot – sowie den restlichen vier kleineren Locations – Maschinenraum, Nest, Butterland und der neu dazugekommenen Torte – erkundet wurden, stellen wir mit Bedauern fest, I am Oak bereits verpasst zu haben. Mist verdammt. Nunja, sei es drum. Es bleibt keine Zeit zum Trauern, denn die südafrikanische Songwriterin Dear Reader erwartet uns bereits auf dem Großschot. Wir fühlen uns noch ein wenig abgelenkt von der wunderschönen Kulisse am Wasser und können den Blick kaum von den schillernden Containerkränen in der Ferne lösen, doch Cherilyn MacNeil lädt uns einfach zum gemeinsamen Träumen ein.
Kaum ist der letzte Akkord verklungen, eilen wir mit dem größer werdenden Massenstrom über die Holzbrücke zu den beiden Däninnen von Darkness Falls. Sie präsentieren charmanten Synthie-Pop mit schrammeligen Nuancen und betörenden Melodien, ganz so wie wir uns das aus ihrem letztjährigen Debüt erhofft hatten. Nachdem die sympathischen Husumer Burschen von Vierkanttretlager den Maschinenraum zum Indierockkessel mutieren ließen, schaffen wir es glücklicherweise noch ein Ohr für We Have Band hinzuhalten. Thomas, Dede und Darren lassen dabei keinen Zweifel an ihren hervorragenden Live-Qualitäten und bilden den perfekten Übergang zum heutigen Headliner Maximo Park.
Doch aufgrund des gigantischen Andrangs zieht es uns nicht unmittelbar vors Großschot, wir machen es uns lieber auf der Deichschräge gemütlich und betrachten den dynamischen Hutträger Paul Smith beim Bad im pubertären Jubelgeschrei. Huch, fast vergessen. Nebenan findet ja gerade der Szenetreff des Tages statt: das Konzert von Friends. Als wir dort ankommen, übertreffen sich unsere Vorstellungen, wir geben den Hipsterikonen eine Chance uns wenigstens musikalisch vom Hocker zu reißen, doch überzeugend sieht und klingt irgendwie anders. Überall diese minderjährigen Glitzergirlies, wir überlassen den Äffchen ihren goldenen Käfig und freuen uns stattdessen auf das bunte Danceinferno bei Hot Chip.
Zu guter letzt lassen wir den Abend mit den melancholischen Klangkonstruktionen von Sascha Ring alias Apparat ausklingen. Im Leipziger Centraltheater schon sehr ansprechend, konnte uns seine Show beinahe umhauen, wären wir nicht derart müde gewesen. Erschöpft treten wir den Heimweg an. Nach einer kurzen Nacht (die luxeriöserweise nicht im Zelt stattfinden muss) eilen wir mit der S-Bahn auch schon wieder Richtung Wilhelmsburg, um uns vor der Hauptbühne für heute häuslich einzurichten. Denn beim Studieren des Timetables mussten wir feststellen, dass das Großschot heute unser place to be zu sein scheint. Zuerst zeigen uns die bezaubernde Sóley und im Anschluss ihre gutgelaunten Landsleute von Retro Stefson, dass die natürliche Einöde Islands äußerst kreativitätsfördernd zu sein scheinen. Danach geht es mit dem Noise Folk-Duo Wye Oak und später mit dem Dänengespann WhoMadeWho an Ort und Stelle weiter.
Kurze Verschnaufpause von den ausgelassenen Tanzeinlagen und es folgt für uns der erste Bühnenwechsel des Tages: sowohl Diagrams als auch Dillon bespielen jetzt das Vorschot. Doch wie sich bei bohrendem Sonnenschein schnell herausstellt, ist diese Bühnenwahl nicht die Beste gewesen (und wir ahnten das bereits im Vorfeld). Der Andrang der beiden Acts ist gewaltig und vermiest uns fast ein wenig den Genuss. Da wäre eine größere Bühnenwahl definitiv von Vorteil gewesen.
Mit aufgequollenem Herzen machen wir uns wieder auf zu unserem heutigen Bühnenheim und stampfen die Bodenplatten zu Metronomy und James Blake noch ein wenig fester. Dem grünen Schlumpfenrap von Marsimoto und intellektuellem Zielgruppenpathos von Prinz Pi leisten wir somit auch am heutigen Samstag ohne Probleme Widerstand. Über mangelndes Zuschauerinteresse brauchen sich die beiden aber trotzdem keine Sorgen machen.
Am Sonntagmorgen fällt uns das Aufstehen tatsächlich recht schwer, der müde Blick auf die dreckigen FlipFlop-Füße vom Vortag und der bevorstehende Anreiseweg zum Festivalgelände machen es aber auch nicht gerade leichter. Sei es drum, einmal noch Aufhübschen und beim Catwalk-Vergleich der anwesenden Blogstars trotzdem kläglich versagen.
Am frühen Nachmittag ist das Gelände noch sehr bescheiden besucht, es haben wohl doch bereits so manche den Heimritt angetreten. Verstehen wir nicht, denn heute zündet das Dockville noch ein paar musikalische Raketen ans Line-up-Firmament. Das erste Sternenfunkeln lassen Here Is Why erstrahlen. Die synthielastigen Popfrequenzen des Leipziger Quartetts erobern unsere verstaubten Gehörgänge im Nu, auch die Band selbst scheint von der freudigen Resonanz erstaunt zu sein. Bei dem anschließenden Dreampop-Trio Me Succeeds erfreuen wir uns an der zarten Stimmfarbe von Sängerin Mohna, die uns zuletzt auf dem Debüt von Christian Löffler die Gehörgänge umschmeichelte.
Zwei Vermummte waren in Hamburg auch zu sehen:
o F F Love (oben) und Holy Other.
Unser persönliches Highlight bildet das Newcomer-Duo des Jahres, Me And My Drummer. So wie wir es auch schon beim diesjährigen Immergut Festival erfahren durften, ereignet sich ihr Konzert auch hier und heute. Die Hafenkulisse im Sonnenuntergang machte das Erlebnis auch für Charlotte Brandi auf der Bühne zu etwas ganz Besonderem. Immer wieder ruft sie dem Publikum ein begeistertes “Wenn ihr wüsstet, wie schön ihr gerade ausseht!” entgegen und befördet zu den schwermütigen Hits ihres Erfolgsalbums “The Hawk, The Beak, The Prey” sämtliche Körperhaare der Anwesenden gen Himmel. Einfach nur hinreißend diese Beiden!
Die angestaute Melancholie schütteln wir beim Blaskapellen-Techno von Die Vögel aus unseren Gliedern und machen uns bereit auf den krönenden Abschluss des 3-Tages-Spektakels: Tocotronic. Obwohl das Gelände am Nachmittag eher leer wirkte (vielleicht aber auch nur, weil die Tanzflächen am Vortag unangenehm überfüllt waren) rekrutieren die Vorzeigekünstler der Hamburger Schule noch einmal die meisten Besucher. Sie spielen vornehmlich alte Lieder, werden bei “Kapitulation” von tanzenden Kindern des vorangegangenen Lüttvilles unterstützt und lassen nur am Ende in ihr letztes Werk “Schall und Wahn” hineinhören. “Macht Es Nicht Selbst” und “Im Zweifel Für Den Zweifel” lockt dann auch die skeptische Jugend vor das Großschot. Mit “Pure Vernunft Darf Niemals Siegen” in der Zugabe entlassen sie das Publikum schließlich gen Alltag, wenngleich auch wieder ein wenig sozialkritischer als ein paar Minuten zuvor.
So war am Ende das Ignorieren der gefühlten 80 Prozent Hipsteranteil unter den 20 000 Besuchern zwar oftmals ein schwieriges Unterfangen, aber mit einer gewissen Portion altklugem Spott konnten wir unser Hauptaugenmerk gottseidank doch noch auf die Musik legen. Und die war an diesem Wochenende wirklich großartig.
Sophie Lagies
(Artikelfoto: Moritz Piehler)
(Fotos: Sebastian Weiß)
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